Gleichstellung gebundenes Ermessen

Nur in atypischen Fällen erfolgt eine Gleichstellung eines behinderten mit einem schwerbehinderten Menschen nach Ermessensgesichtspunkten. Der Bundesagentur für Arbeit ist vom Gesetzgeber insoweit lediglich ein "gebundenes Ermessen" eingeräumt, so dass regelmäßig die prognostische Einschätzung ausreicht, ob der Arbeitsplatz "infolge der Behinderung" ernsthaft gefährdet ist. Ein "strenger Kausalitätsnachweis" ist hierfür nicht erforderlich.


SG Leipzig 8. Kammer
17.06.2008
S 8 AL 281/07
Juris



Leitsatz

Nur in atypischen Fällen erfolgt eine Gleichstellung eines behinderten mit einem schwerbehinderten Menschen nach Ermessensgesichtspunkten. Der Bundesagentur für Arbeit ist vom Gesetzgeber insoweit lediglich ein "gebundenes Ermessen" eingeräumt, so dass regelmäßig die prognostische Einschätzung ausreicht, ob der Arbeitsplatz "infolge der Behinderung" ernsthaft gefährdet ist. Ein "strenger Kausalitätsnachweis" ist hierfür nicht erforderlich.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen.

Die 1955 geborene Klägerin ist gelernte Gartenbau-Ingenieurin und bei der Beigeladenen als Fachbearbeiterin Einkauf seit 1987 tätig. Sie arbeitet an einem Personalcomputer-Arbeitsplatz, der zunächst nicht behindertengerecht gestaltet war, später bewilligte ihr der Rentenversicherungsträger einen orthopädischen Stuhl.

Sie ist schwerbehindert bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 40. Mit Änderungsbescheid vom 31.05.2005 stellte das Amt für Familie und Soziales B. – Versorgungsamt – folgende Funktionseinschränkungen fest:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Verformung verheilter Wirbelbruch

2. Migräne

3. Refluxkrankheit der Speiseröhre

4. Verlust der Gebärmutter.

Am 26.09.2006 beantragte die Klägerin die Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen. Sie könne zwar ihre derzeitige Tätigkeit mit behinderungsbedingten Einschränkungen weiterhin ausüben, sei allerdings in ärztlicher Behandlung wegen Rücken-, Magen-, Darm- und Hautbeschwerden sowie Migräne. Dadurch bliebe ihre Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Ihr in Vollzeit ausgeübtes Arbeitsverhältnis sei noch nicht gekündigt, aber durch eine „standortmäßige Neuaufstellung des Unternehmens“ gefährdet. Um Projektträgerkosten durch weiteren Stellenabbau einsparen zu können, habe die Arbeitgeberin bereits mit einer Kündigung gedroht. Im 2. Quartal 2007 werde sie unter dem seelischen Druck der Bedrohung durch eine Kündigung stehen.

Die Beklagte holte daraufhin Erklärungen von Arbeitgeber, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung ein. Diese verwiesen auf eine Arbeitsplatzgefährdung wegen der planmäßigen Personalentwicklung, auf Grund behinderungsbedingter Auswirkungen sei der Arbeitsplatz jedoch nicht gefährdet.

Durch Bescheid vom 15.01.2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Geplante Rationalisierungsmaßnahmen rechtfertigten noch keine Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen. Nach den vorgenannten Erklärungen liege keine behinderungsbedingte Gefährdung des Arbeitsplatzes vor.

Hiergegen legte die Klägerin am 07.02.2007 Widerspruch ein. Wegen bevorstehender Kündigungen im Jahr 2007 sei ihr Arbeitsplatz gefährdet. Bei einer Sozialauswahl käme der Gleichstellung eine wesentliche Bedeutung zu, auch weil eine Besserung ihres gesundheitlichen Zustandes nicht zu erwarten sei.

Durch Widerspruchsbescheid vom 24.05.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zwischen Behinderung und drohendem Arbeitsplatzverlust bestehe kein ursächlicher Zusammenhang. Betriebsbedingte Kündigungsabsichten reichten für die beantragte Gleichstellung nicht aus, zumal die Arbeitgeberin angegeben habe, dass dieser keine gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin bekannt seien.

Die Klägerin hat deswegen am 22.06.2007 Klage zum Sozialgericht Leipzig erhoben, die sie am 08.10.2007 begründet hat. Die gesundheitlichen Einschränkungen seien der Arbeitgeberin deswegen nicht bekannt geworden, weil die Klägerin zum Ausgleich ihrer Minderleistung bezahlte Überstunden in Anspruch genommen habe. Da es Ziel des Gesetzgebers sei, ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu nicht-behinderten Arbeitnehmern zu verbessern, habe sie einen Rechtsanspruch auf Gleichstellung.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 15.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf eine Gerichtsakte sowie einen – unnummerierten – Verwaltungsvorgang der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 15.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2007 erweist sich als rechtswidrig und war daher aufzuheben. Die Klägerin wird hierdurch in eigenen Rechten verletzt, weil sie einen Rechtsanspruch auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen hat.

Gemäß § 2 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen im Übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen). Somit sollen diejenigen Behinderten schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, bei denen zwar ein Grad der Behinderung von 30, nicht indes von 50 gegeben ist. Wenn nach dem Gesetzeswortlaut die Gleichstellung erfolgen „soll“, bedeutet dies, dass sie im Regelfall erfolgen muss; denn durch die Formulierung „soll“ hat der Gesetzgeber der D.... ein „gebundenes Ermessen“ zugestanden. Dieser soll nur dann die Möglichkeit zu einer anderen Entscheidung als der Gleichstellung eingeräumt sein, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Gleichstellung verwehren (BSGE 86, 10 (16)). Nur in atypischen Fällen erfolgt daher eine Gleichstellung nach Ermessensgesichtspunkten. Ein atypischer Fall liegt hier jedoch nicht vor:

Wenn nach dem Gesetz „infolge“ der Behinderung ein Arbeitsplatzverlust zu gewärtigen sein muss, ist zwar daraus abzuleiten, dass die Behinderung Ursache der beruflichen Gefährdung sein muss; es reicht indes aus, wenn der Arbeitsplatz ernstlich gefährdet ist. Dies ist von der Agentur vorausschauend im Wege einer Prognose festzustellen (wie hier: LSG Niedersachsen in: Breithaupt 1996, Seite 579). Die Agentur für Arbeit hat somit bei der Entscheidung über einen Gleichstellungsantrag umfassend zu bewerten, welche Auswirkungen sich aus den gesundheitlichen Einschränkungen des behinderten Menschen insgesamt auf seine berufliche Teilhabe ergeben. Die Beschränkung der Prüfung auf eine monokausale Beziehung zwischen den Funktionsbeeinträchtigungen „infolge“ der Behinderung und Gefährdung des Arbeitsplatzes ist hierbei unzulässig (ebenso: SG Bremen, Urteil vom 01.07.2005, Az: S 9 AL 12/05).

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten geht das Gericht, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 11.01.2006, Az: L 12 AL 31/05), deshalb davon aus, dass der von der Beklagten geforderte strenge Kausalitätsnachweis nicht vorliegen muss. Vielmehr ist bei der anzustellenden Prognose über das Behaltenkönnen des Arbeitsplatzes keine absolute Sicherheit zu verlangen (LSG Niedersachsen, a.a.O.). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung, der das Gericht folgt, genügt es, wenn durch eine Gleichstellung der Arbeitsplatz sicherer gemacht werden kann (so bereits: BVerwGE 42, 189 (195); BSGE 86, 10 (13)).

Wenn nach der gesetzgeberischen Wertung die D. davon auszugehen hat, dass grundsätzlich jeder Schwerbehinderte besonders schutzbedürftig ist, ist bei wertender Betrachtung im Sinne einer wesentlichen Bedingung zu prüfen, ob der Behinderte in seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nicht-Behinderten in besonderer Weise beeinträchtigt ist (und ggf. deshalb nur schwer vermittelbar war bzw. ist); denn nach dem Ziel der Gleichstellung soll die rechtzeitige Hilfe für den behinderten Menschen zur Behebung einer ungünstigen Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt führen.

Zwar ist nach Auskunft der beteiligten Stellen durch Rationalisierungsmaßnahmen der Beigeladenen ein Personalabbau zu erwarten; gleichwohl ist prognostisch davon auszugehen, dass sich bei der in diesem Rahmen zu treffenden Personalauswahl die Klägerin in einer ungünstigeren Position befindet als nicht-behinderte Mitarbeiter. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass behinderte Frauen im Verhältnis zu behinderten Männern zusätzlich noch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben (so: Mrozynski, SGB IX-Kommentar, 2002, § 2 Rdnr. 57).

Da es – wie ausgeführt – ausreicht, dass der Arbeitsplatz der Klägerin durch die begehrte Gleichstellung sicherer gemacht wird und ein atypischer Fall zur Eröffnung einer Ermessensentscheidung für die Beklagte nicht vorliegt, war hier die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen festzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und beruht auf dem Ausgang dieser Entscheidung.



Versorgungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung


Versorungsmedizinische Grundsätze
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